Tiefen und Höhen eines älteren Jungtriathleten
Vor vier Jahren meldete mich meine Frau kurzentschlossen
zum Bamberger Weltkulturerbelauf mit an. Seitdem war ich Läufer und nahm immer
wieder einmal gerne an einem Volkslaufwettbewerb teil, bis mir mein Arzt letzten
Sommer nach einer Meniskusoperation riet, langsamer zu machen. Die 53 Jahre
hätten sichtliche Spuren in meinen Knien hinterlassen. Dies war keine schöne
Nachricht. Doch dann entdeckte ich in der Zeitung einen Bericht über einen
Volkstriathlon. Triathleten, das waren doch diese Supersportler, außerhalb
jeglicher Vorstellung für mich. Was ich in der Zeitung las, schien jedoch
machbar und schon hatte mich die Idee in ihren Bann gezogen.
Fünf Kilometer Laufen kein Problem, das würden auch meine
lädierten Knie noch bewältigen, zwanzig Kilometer auf dem Fahrrad Rad fahren
hatte mir schon immer Spaß gemacht. Nur die fünfhundert Meter, die es zu
schwimmen galt, bereiteten mir Sorge. Meine jährliche Schwimmleistung lag bei
geschätzten einhundert Metern langsamen Brustschwimmens, in der Art, wie ich es
als Kind gelernt hatte.
Bei meiner Internetrecherche ergab sich ein netter Kontakt
zur Triathlonabteilung eines Bamberger Sportvereins, verbunden mit dem Angebot,
an einem Kraulkurs teilzunehmen. So fand ich mich in den nächsten Wochen,
gemeinsam mit meiner Frau, die sich von meiner Idee mitreißen ließ, jeden
Samstagnachmittag zum Schwimmunterricht ein. Nach zwei Monaten war ich
allerdings immer noch nicht in der Lage, mehr als zwei Fünfundzwanzigmeterbahnen
ohne Pause durchzukraulen. Aber es machte Spaß und so hatte ich mir ein Ziel
gesetzt, denn Ziele sind wichtig im Sport: Man trainiert dann auf etwas hin,
plant, macht sich viel Gedanken über das gesetzte Ziel, freut sich darauf und
wenn es zeitlich näher rückt, kommt eine kribbelnde, aufgeregte Angst auf, ob
man sich da nicht zu viel vorgenommen hat.
Mein Ziel war der Bamberger Volkstriathlon im Juli. Ein
Vereinskollege erstellte mir einen individuellen Trainingsplan und ich bereitete
mich so gut vor, wie ich es konnte. Jede Woche übte ich mich zweimal im
Schwimmen, allerdings ohne dass sich meine Fähigkeiten grundlegend besserten.
Doch es gibt tatsächlich Wunder. An einem milden Tag um Pfingsten herum, gingen
wir ins Freibad. Ich schwamm auf der Fünfzigmeterbahn, immer weiter und weiter.
Sehr langsam zwar, doch irgendwann hatte ich tausend Meter gekrault und hörte
nur auf, weil ich meine neuen Fähigkeiten selbst kaum fassen konnte.
In der nächsten Zeit übte ich, das Tempo zu verbessern und
zwei Wochen vor dem Bamberger Triathlontermin, schwamm ich fünfhundert Meter in
für mich noch vor kurzer Zeit unvorstellbaren zwölf Minuten. Zwölf Minuten, ein
Blick auf die Ergebnisse vom letzten Jahr zeigte, dass ich damit am Ende des
Feldes mit dabei war. Ich hatte es geschafft.
Am Sonntag vor dem Wettkampf meinte meine Frau beim
Frühstück, ob ich nicht einmal die Wettkampfstrecke abschwimmen wolle, das wäre
vielleicht sinnvoll. Da hat sie wohl nicht ganz unrecht, dachte ich mir, auch
wenn ich keine Probleme erwartete, denn im offenen Wasser des Flusses würden ja
die lästigen Wenden des Schwimmbades wegfallen, die mich immer etwas aus dem
Rhythmus brachten.
Ich fuhr also zur Wettkampfstrecke, dem durch ein Wehr
aufgestauten Teil der Regnitz. Ich zog mich bis auf die Badehose aus, stieg,
bestaunt von einigen Spaziergängern, die Treppen hinab und glitt ins Wasser. Es
war eiskalt, doch ich versuchte, es zu ignorieren. Ich begann, wie vom
Schwimmbad gewohnt, loszukraulen, doch schon an der etwa achtzig Meter
entfernten Boje war Schluss. Alles hatte sich in mir verkrampft, die kleinste
Bewegung wurde zur Anstrengung und mühsam schaffte ich es Brustschwimmend zu
meiner Einstiegstreppe zurück. Ich sah nur eine Lösung: ich brauchte einen
Neoprenanzug, sonst war es vorbei mit meinem Ziel. In dieser Kälte würde ich
unmöglich fünfhundert Meter nur in der Badehose schwimmen können. Der Heimweg
führte bei einer befreundeten Familie vorbei, die leidenschaftliche Surfer sind
und mir einen ihrer Surfanzüge liehen. Er saß straff, aber ich passte hinein und
die Arme ließen sich noch gut bewegen. Ich war gerettet.
Wettkampftag: Schon am Morgen bin ich schrecklich
aufgeregt, aber das verrate ich niemandem. Wir fahren zum Wettkampf, ich bekomme
meine Startunterlagen und eine Nummer auf die Hand gemalt. Dann betrete ich, zum
ersten Mal in meinem Leben, eine Wechselzone. Alles habe ich geplant, zigmal im
Kopf durchgespielt. Ich stelle mein Fahrrad auf, lege Schuhe, Trikot,
Startnummernband alles griffgerecht bereit. Die Startzeit rückt näher, ich
zwänge mich in den Neoprenanzug, meine Frau hat Mühe den Reisverschluss zu
schließen. Alles ist eng, doch ich stecke drin im Anzug.
Mit den ersten Wettkämpfern lasse auch ich mich ins Wasser
gleiten. Die Kälte ist mit dem Neopren auszuhalten. Ich schwimme zur Startlinie,
am Ufer wird gezählt, ein Schuss und ich kraule so schnell ich kann, bin mitten
unter den Anderen, es geht gut voran. Dann, batsch, von links erwischt mich die
Hand meines Nachbarn und wieder batsch. Ich will ausweichen, stoße rechts gegen
einen anderen Schwimmer, beginne meinen Rhythmus zu verlieren, kämpfe mich
weiter und plötzlich ist mein Atem wie blockiert. Ich schnappe Luft, habe
Angstzustände, verharre fast reglos im Wasser, doch es wird nicht besser. Zum
Ufer, nur noch zum Ufer. Im seichten Wasser reiße ich den Reißverschluss des
Anzugs herunter, jetzt geht es etwas besser.
Ich sehe, das Ende des Feldes, es ist noch nicht weit weg.
Mit offenem Anzug schwimme ich wieder zur Mitte des Flusses, komm wieder näher
heran und dann dreht sich alles um mich herum, verschwimmt vor meinen Augen. Ich
greife nach einem Kanu, das in der Nähe ist, und höre, wie der Fahrer sagt:
Jetzt bist du aber draußen. Schluss, aus, vorbei.
Nach einer Weile habe ich mich am Kanu hängend so weit
erholt, dass ich zum Ufer schwimme. Ich schlüpfe aus den Ärmeln des
Neoprenanzugs, muss den Weg auf dem Wehr entlang zurücklaufen und alle die am
Ufer stehen, können mich sehen, sich ihre Gedanken machen. Vorbei, die ganzen
Monate Training umsonst und jetzt gehe ich in dem albernen Anzug mit den
baumelnden Ärmeln auf dem Wehr. Wie sehr hatte ich mich auf das Finisher
T-Shirt, das vorzeigbare Zeichen des Erfolgs, gefreut. Nichts wird es geben.
Kein T-Shirt, kein glückliches, ausgelassenes Kuchenessen im Ziel. Das ist heute
alles für andere reserviert.
Zu Hause will ich mich ablenken, schaue ins Internet, will
mich beruhigen, indem ich nach anderen Triathlonterminen schaue. Es gibt ja noch
mehr Gelegenheiten. Aber das verschafft mir eben keinen Trost. Morgen findet ein
Volkstriathlon in Hersbruck statt, eine Autostunde von hier entfernt. Ich
schicke eine e-mail, frage, ob es noch Plätze gibt, aber dass mache ich nur, um
mich zu beruhigen. Morgen werde ich an keinem Triathlon teilnehmen. Das wäre
lächerlich so wie ich eben drauf bin.
Ich setze mich aufs Rad, fahre gemächlich drei Stunden
durch den Steigerwald, das hilft etwas. Trotzdem schlafe ich sehr unruhig in
dieser Nacht, habe merkwürdige Träume. Als ich früh aufwache, ist es kurz vor
sieben. Um mich von der gedrückten Stimmung, die wieder in mir aufkommen will,
abzulenken, schalte ich den Laptop ein. Ich habe eine e-mail bekommen, es ist
die Antwort aus Hersbruck: Alles klar, komm vorbei, Wasser im See ist schön
warm
Ich schaue auf dem Bildschirm. Soll ich vielleicht doch
hinfahren? Nein, das wäre Wahnsinn, in drei Stunden ist Start und ich bin noch
nicht einmal angezogen. Doch da stehe ich plötzlich neben dem Bett. Meine Sachen
von gestern stehen noch in einer Plastikkiste bereit. Leise fülle ich meine
Trinkflasche, um niemanden im Haus zu wecken. Ich breche ein Stück Baguette ab
und schleiche nach draußen. Soll ich wirklich fahren? Aber da sitze ich schon im
Wagen und fahre zur Autobahn.
Die Straßen sind frei am Sonntagmorgen, ich komme schnell
voran. Kurz nach acht bin ich am See bei Hersbruck. Schön ist es hier, die Leute
sind nett, die Teilnehmermenge überschaubar und das Wasser hat 19 Grad. Das ist
nicht gerade warm und viele jammern, aber für mich ist das o.k. heute. 19 Grad,
darin kann ich schwimmen.
Ich ordne meine Sachen in der Wechselzone. Helm, Socken,
Radschuhe...Wo sind die Radschuhe? Ich wühle die Kiste durch, dann fällt mir
ein, dass sie von meiner Ausfahrt gestern noch daheim im Flur stehen. Dann muss
es halt auch mit Laufschuhen auf den kleinen Klickpedalen gehen.
Fünf, vier, drei, zwei, eins, start. Ankommen ist heute
mein Ziel, egal wie schnell und wenn ich letzter werde, nur ankommen, im
Finisher T-Shirt dastehen, dann bin ich glücklich. Ich habe mich hinten
eingeordnet, kraule langsam los, ein paar Puffer von der Seite gibts trotzdem,
doch dann ist es ruhiger. Als ich aufschaue, ist fast keiner mehr neben mir und
voraus sehe ich in einigen Metern lauter Brustschwimmer. Jetzt schwimme ich doch
etwas schneller, es geht.
Als einer der letzten steige ich aus dem Wasser, doch es
sind noch viele in der Wechselzone bei ihren Fahrrädern, vielleicht kämpfen sie
damit, aus ihren Neoprenanzügen herauszukommen. Ich ziehe mich an, jeder
Handgriff, so wie ich es immer wieder in Gedanken durchgespielt habe und schon
bin ich auf dem Rad, während in der Wechselzone immer noch reges Treiben
herrscht.
Die Strecke wird fünfzehn Kilometer sanft ansteigen und
dann geht es die letzen fünf Kilometer kräftig hoch, zweihundertsiebzig
Höhenmeter. Ich muss mit den Kräften haushalten, ich will ankommen. Ich schaue
auf den Pulsmesser. Nicht zu schnell werden, ich muss mir noch Reserven
aufheben. Einige überholen mich, egal, sollen sie, ich fahre genau mein Tempo.
Die Landschaft neben der Strecke ist wunderschön. Die
Laufschuhe auf den kleinen Pedalen sind ungewohnt, aber es geht. Nur in den
Wiegetritt kann ich nicht, da rutsche ich ab vom Pedal. Die Steigungen werde ich
alle im Sitzen fahren müssen. Nach der Hälfte der Radstrecke spüre ich, dass ich
ankommen werde. Mir wird es leicht ums Herz. Die Steigungen kommen, aber sie
machen mir nichts mehr aus. Noch ein steiler Anstieg, dann ist es geschafft. Ein
Helfer nimmt mein Rad, den Helm. Die anderen Triathleten rennen zu ihren Sachen,
müssen die Schuhe wechseln. Ich darf sofort laufen. Wie schön sich die
Laufschuhe an meinen Füßen anfühlen, wie vertraut sie sind von der Fahrt auf dem
Rad.
Ich renne, fünf Kilometer sind es nur. Rennen kann ich, da
weiß ich wie sich Wettkampf anfühlt. Vor mir kommt eine Gruppe immer näher, ich
überhole sie. Jetzt brauche ich für nichts mehr zu sparen. Ich keuche und bin
glücklich dabei. Noch ein paar Läufer vor mir kommen näher, doch sie sind noch
zu weit. Ich werde sie nie einholen können. Egal, vollkommen egal. Trotzdem lege
ich noch zu. Die Sekunden, die ich jetzt noch gutmache sind alleine für mich,
meine Belohnung, die habe ich mir verdient. Noch hundert Meter zum Ziel, ich
renne, jemand ruft meine Nummer, eine Frau sagt eine Zeit und dann bin ich
durch.
Ich stehe da, es ist geschafft. Die Anderen essen Kuchen,
trinken, ich stehe nur da und habe Tränen in den Augen. Ich fühle mich überhaupt
nicht erschöpft, könnte noch weiterlaufen, könnte fliegen. Dann esse auch ich
ein Stück Kuchen und mir fällt auf, dass die Anderen alle rote T-Shirts tragen.
Ach ja, das Finisher T-Shirt. Ich hätte es fast vergessen.