Die 500 km von Kemmern (von Uli Walter)
1 Die Vorgeschichte
Der Gedanke, an einem Kalendertag möglichst viele Kilometer (idealerweise 500) mit dem Fahrrad zu fahren, hat mich immer schon fasziniert. Ich wußte natürlich, daß ein solches Vorhaben eine ungeheuere Quälerei bedeuten würde - nicht nur in körperlicher, sondern auch in mentaler Hinsicht. Deswegen traute ich mich an die Umsetzung dieses Planes nie so richtig heran. Vielleicht habe ich mir unbewußt sogar immer wieder neue Marathonläufe und andere Aktivitäten vorgenommen, um mich nicht mit der 24h-Tour beschäftigen zu müssen und hierfür eine gute Ausrede zu haben.
Weiterhin muß man wissen, daß ich auf den Familien-Radtouren am Pfingst-Wochenende die Tourenlänge immer am Alter des kleinsten, selbst fahrenden Kindes ausrichtete. Ich legte die Regel zugrunde: Die maximale Tagesfahrstrecke eines Kindes in Kilometern entspricht dem Zehnfachen seinen Lebensalters in Jahren. Natürlich wurde ich immer wieder gefragt, ob diese Formel auch für Erwachsene gültig sei. Ich bejahte dies regelmäßig mit den Worten: Das geht bis zum Alter von 50Jahren und entwickelt sich danach wieder zurück.
Als ich mich dann 1996 nach meinem zweiten Ironman fragte, ob ich nicht endlich einmal die 500km-Tour angehen müsste, kam mir die einzige logische Antwort in den Sinn: Klar, im Sommer nach dem 50sten Geburtstag!
2 Die Vorbereitung
Es war klar, daß ich im Jahr 2011 frühzeitig ein gutes Grundlagentraining absolvieren musste. Aus diesem Grund verbrachte ich die letzte Märzwoche auf Gran Canaria, wo ich jeden Tag mit dem Rennrad unterwegs war und insgesamt 448 km auf dem Sattel verbrachte. Zu hause setzte ich das Training mit Rennrad, Mountainbike und Treckingrad fleißig fort, so daß ich Ende Mai bereits über 2.000 km in den Beinen hatte.
Terminlich konnte ich mich - anders als bei einem Marathon - natürlich nicht auf ein bestimmtes Wochenende festlegen. Ich benötigte ja unbedingt gutes Wetter - nicht zu kalt und regenfrei. Abgesehen von Pfingsten (wegen der Familien-Radtour mit meiner Schwägerin Heike und ihrem Mann Klaus) und dem ersten Juli-Wochenende (Svenjas Verabschiedung am Franz-Ludwig-Gymnasium bzw. ihr Abi-Ball) gab ich in den Monaten Juni und Juli deswegen keine Terminzusagen, die ich nicht wieder hätte revidieren können.
Auch in technischer Hinsicht gab es einiges vorzubereiten. Das Rennrad wurde mit nagelneuen Reifen, neuer Kette und neuem Ritzel ausgestattet. Außerdem besorgte ich eigens für die Tour ein Diodenrücklicht und einen superhellen Dioden-Scheinwerfer.
Hinsichtlich der Wegführung entschied ich mich für eine Route entlang des Mains, weil mich dort keine langen Steigungen erwarteten. Da ich wegen negativer Erfahrungen bei einer Tour von Bamberg nach Wiesbaden Ballungszentren vermeiden wollte, wählte ich eine Pendelstrecke von Kemmern nach Wertheim und zurück - so weit wie möglich über den hervorragend ausgebauten Main-Radweg.
An den meisten Abschnitten des Flusses existieren auf beiden Seiten des Mains Wege, die mit dem Rad befahren werden können. Um zu bewerten, welches Mainufer besser geeignet ist, fuhr ich im Rahmen des Trainings etappenweise beide Seiten ab. Das Training nutzte ich außerdem, um meinen Fahrrad-Kilometerzähler mit den Werten meiner GPS-Uhr abzugleichen.
Auf dieser Basis legte ich auch mittels Google-Maps die Stellen fest, an denen mich Ulli versorgen sollte. Die eigentliche Route zeichnete ich ihr auf Kopien der Original-Landkarte ein. Ohne eigenes Versorgungsfahrzeug wäre eine solche Tour kaum durchführbar, da es in dieser Gegend Frankens kaum Tankstellen oder andere Versorgungsmöglichkeiten, gibt - vor allem keine, die auch an Sonntagen bzw. nachts geöffnet haben. Getränke und Essen für 500 km auf dem Rennrad mitzunehmen, ist aber kaum realistisch. Deshalb war ich sehr glücklich, als Ulli mir anbot, mich mit dem Auto zu begleiten.
Für das erste Juni-Wochenende zeichnete sich ab, daß es gute Bedingungen für die geplante Tour bieten könnte: Es war als warm und weitgehend regenfrei angekündigt, und im Juni waren die Nächte bereits recht kurz. Ich hatte außerdem die Möglichkeit, mich am Vatertag zunächst ausruhen und meine Erkältung auskurieren zu können. Auch für Carbo-Loading war genügend Zeit. Letztendlich entschied ich am Samstagmorgen endgültig, daß ich es am Sonntag, den 05.06.2011 versuchen würde.
In das Auto luden wir alles, was zwischendurch möglicherweise hilfreich sein konnte: Wechselkleidung, Ersatzreifen, Getränke (Wasser, Mineralwasser, Apfelsaft, Bananenmilch, Tomatensaft, O2, heißes Wasser für Kraftbrühe, Bier), Essen (getrocknete Bananen, Powerbars, Fruchtschnitten, Mars-Riegel, Wurst, Kirschkuchen) und glücklicherweise auch eine Stand-Luftpumpe.
Die Powerbar-Riegel wollte ich während der Fahrt verzehren können, ohne absteigen zu müssen. Ich wollte sie in einem umfunktionierten Kaffeetassenwärmer aus Neopren transportieren, den ich am Triathlon-Lenker befestigte - und zwar bereits ausgepackt, weil auspacken von Powerbars während der Fahrt sehr schwierig ist. Wer Powerbars kennt, weiß aber, daß sie ohne Verpackung unweigerlich aneinanderkleben. Um dies zu verhindern, kam Ulli auf die Idee, sie wie Fruchtriegel mit Oblaten einzuhüllen. Das funktionierte hervorragend.
Um wirklich pünktlich losfahren zu können, musste ich nun nur noch die Sportuhr nach Vorgabe der Funkuhr einstellen.
3 Der Ablauf
Die Nacht
Nach einem Mini-Nickerchen von wenigen Minuten startete ich pünktlich um 0:00 Uhr in die Neumond-Nacht.
Der erste Stop war schon nach 4 Kilometern fällig, weil mein Scheinwerfer verrutschte. Dies konnte ich rasch beheben. Schnell wurde mir kühl, so daß ich bereits um ein Uhr erneut anhalten mußte, um ein langärmeliges Trikot anzuziehen. Immerhin war ich jetzt schon in Zeil und hatte die ersten 28 Kilometer zurückgelegt.
Eine Nachtfahrt hält aufgrund der naturgemäß verkürzten Sichtweite oft Überraschungen bereit, die man tagsüber nicht so erleben würde. So war auf dem Radweg zwischen Zeil und Haßfurt nicht nur ein Wanderer unterwegs, sondern auch ein Rollstuhlfahrer, der von einer anderen Person geschoben wurde. Beides würde man um diese Zeit nicht an diesem Ort vermuten.
Um zwei Uhr hatte ich Schweinfurt durchquert und war in Röthlein (km 53). Dort zog ich zusätzlich noch eine leichte Goretex-Jacke über. Mein Rucksack drückte trotzdem noch spürbar auf die Schultern, weil ich neben der Kleidung zwei Literflaschen mit Wasser, eine Tüte getrocknete Bananen, vier Riegel, zwei Ersatzschläuche, einen Ersatzmantel und diverse Ersatzbatterien eingepackt hatte. In Sommerach erwartete mich gegen 3:30 Uhr eine weitere Überraschung. Ein offensichtlich betrunkener Zecher sprang mit entblößtem Oberkörper und ausgebreiteten Armen mitten auf die Fahrbahn. Freundlicherweise wich er kurz darauf gleich wieder an die Hauswand zurück. Ungeachtet dessen kam ich zwischen zwei und vier Uhr gut voran und fuhr in beiden Stunden jeweils 27 Kilometer. Inzwischen hatte ich fast Kitzingen erreicht.
Bis dahin ging es mir körperlich ziemlich gut. Ich hatte lediglich leichte Sitzbeschwerden, weil ich offensichtlich die Radhose nicht sorgfältig genug mit Hirschtalg eingecremt hatte. Dadurch war das Liegen auf dem Triathlon-Lenker nicht sehr angenehm, und ich verließ diese Haltung öfter als ich es normalerweise getan hätte.
Bei Frickenhausen wurde es gegen 4:30 Uhr schon langsam hell. Ab jetzt war ich nicht mehr unbedingt auf mein Diodenlicht angewiesen.
Kurz nach Würzburg hatte ich meinen Riegelvorrat aus dem Neoprenbehälter aufgebraucht, so daß ich bei km 153 eine erste Verpflegungs- und Pinkelpause einlegte. Nun schmerzten so langsam die Arme. Weil ich den Tria-Lenker nicht so häufig nutzte, wurde die Oberarmmuskulatur stärker belastet. Das trug möglicherweise dazu bei, daß ich bei Lohr (km 203) einen ersten leichten Durchhänger hatte. Ich machte hier erneut kurz Pause. Jetzt waren auch Schmerzen im linken Knie hinzugekommen. Ich schonte es ein wenig, indem ich fortan stärker mit dem rechten Bein in die Pedale trat.
Wertheim
In Wertheim wartete verabredungsgemäß Ulli am Ortseingang mit köstlichem Kirschkuchen auf mich. Endlich brauchte ich keine Riegel mehr zu essen! Ich konnte sie jetzt schon nicht mehr sehen. Hier machte ich zwei Mal eine kurze Pause: Das erste Mal nach 242 km (von 9:30 bis 9:42 Uhr) bei der Durchfahrt mainabwärts, das zweite Mal nach der Rückkehr vom Wendepunkt bei km 258 (von 10:05 bis 10:15 Uhr). Bereits bei der ersten Pause befreite ich mich von meinem Rucksack - war das schön!
Lohr
Die 39 km nach Lohr (km 297 - Pause von 11:42 bis 11:52 Uhr) fuhr ich weiterhin so schnell wie in den ersten Stunden, obwohl ich ja jetzt viel Zeit für den Rückweg hatte. Ich wollte gerne noch im Hellen nach Kemmern zurückkommen. Allerdings schmerzte nun die Muskulatur über dem rechten Knie ziemlich heftig.
Erlabrunn
Das besserte sich bis zur nächsten Verpflegungsstelle in Erlabrunn (km 339 - Pause von 13:39 bis 13:53 Uhr) nicht wesentlich. Ich muß zugeben, daß ich so langsam auch keine rechte Freude mehr am Radfahren hatte. Aufgeben kam aber natürlich nicht in Frage.
Frickenhausen
Nach der erneuten Durchquerung von Würzburg und neidischen Blicken auf die dort am Mainufer in der Sonne liegenden Menschen wartete Ulli auf mich am Ortsausgang von Frickenhausen. Mit 373 Kilometern hatte ich inzwischen bereits eine neue persönliche Bestleistung aufgestellt. Dem Knie ging es wieder etwas besser. Auch hier wollte ich eigentlich nur eine kurze Pause machen, aber schon nach den ersten Metern auf dem Rad begann ein so heftiger Gewitterregen, daß mich Ulli ins Auto zog. Mein Fahrrad mußte leider draußen warten. Die Pause dauerte deswegen von 15:21 bis 16:39 Uhr, was ich für ein Schläfchen auf dem Beifahrersitz nutzte.
Sommerach
Der Regen hatte zwar noch nicht wirklich aufgehört, aber er war nun leicht genug, um nach Sommerach weiterfahren zu können. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß es überall um mich herum aufklärte - nur über mir schwebte noch eine geschlagene Stunde lang eine fette Regenwolke. Vielen Dank auch! Dafür ging es den Beinen jetzt wieder gut. Die Oberarme schmerzten jedoch höllisch, und auch die Daumenballen begannen, sich zu beklagen. Links bildete sich trotz der Handschuhe eine Blase, die erst zwei Wochen später vollkommen verheilt war. Bis Sommerach (km 406) knackte ich noch die 400 km-Marke und machte dort von 17:55 bis 18:06 Uhr erneut Pause. Ulli hatte zwischenzeitlich nahrungstechnisch eine kleine Abwechslung parat: Sie hatte mir eine Bockwurst besorgt. In diesem Moment war das eine Delikatesse.
Röthlein
Nun kam ich durch das Epizentrum des Gewitterregens. In der Gegend um Volkach hatte er nicht nur zahlreiche Keller unter Wasser gesetzt, sondern auch Teile von Weinbergen auf die Straße gespült. Überall war die Feuerwehr im Einsatz. Die Radwege waren wegen der Schlammlawinen teilweise unbefahrbar, und auch die Straßen waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Als ich in Röthlein (km 436 - Pause von 19:20 bis 19:32 Uhr) ankam, sahen mein Rennrad und ich aus wie sonst nur nach einer Mountainbike-Tour. Ich vertilgte hier den restlichen Kuchen.
Schonungen
Schon 18 Kilometer nach Röthlein wartete Ulli in Schonungen (km 454 - Pause von 20:15 bis 20:17 Uhr) mit einem Schluck Coca-Cola auf mich. Ich freute mich schon darüber, jetzt fast zu hause zu sein.
Das war leider etwas voreilig. Wenige Kilometer später erwischte mich kurz nach Untertheres (vermutlich durch den Schmutz und die nassen Straßen bedingt) ein Defekt im Schlauch des Vorderrads. Es ist wirklich kein Vergnügen, nach 460 km kurz vor Einbruch der Dämmerung einen Schlauch aus einer nassen und verdreckten Werkzeugtasche zu angeln, um diesen auf eine ebenfalls total verdreckte Vorderradfelge aufzuziehen. Egal - bald war ich ja am Ziel.
Meine Geduld war allerdings endgültig am Ende, als ich feststellen mußte, daß sich mit meiner Luftpumpe - warum auch immer - kein Reifendruck von mehr als 4 Bar aufbauen ließ. Das reicht leider nicht für ein Rennrad. Ich rief also Ulli an, die bereits in Ebelsbach wartete, um mir die Standluftpumpe bringen zu lassen. Das gute Stück funktionierte glücklicherweise einwandfrei. Allerdings hatte ich inzwischen fast eine Stunde mit der Panne vertrödelt.
Ebelsbach
Um 22:05 Uhr erreichte ich schließlich nach 482 Kilometern den letzten Verpflegungspunkt auf dem REWE-Parkplatz in Ebelsbach. Hier hielt ich mich nur noch eine Minute auf, um den Rest Cola zu trinken und die Batterien meines vorderen Lichts auszutauschen. Ich bemerkte, daß mein linker großer Zeh inzwischen taub geworden war. Auch das sollte sich erst eine Woche später wieder ändern.
Zurück in Kemmern
Jetzt wollte ich nur noch eins: nach hause! Abgesehen von einer kleinen, ungemein wohltuenden Pinkelpause auf freiem Feld fuhr ich nun direkt nach Kemmern. Ulli wartete immer wieder auf mich, um hinter mir her zu fahren und mir mit den Mondeo-Scheinwerfern Zusatzlicht zu spenden. An der letzten Laterne auf der Brücke von Dörfleins nach Hallstadt komplettierte ich den fünften Hunderter und jubilierte. Um 23:15 Uhr bei der Ankunft in Kemmern hatte ich genau 503,9 km auf dem Tacho. Svenja und Ulli erwarteten mich schon mit einem wohlverdienten Bier und einem Transparent, das Svenja im Treppenhaus aufgehängt hatte. Ich war vollkommen erschöpft, aber glücklich, es geschafft zu haben.
Ich stellte fest, daß meine Netto-Fahrzeit 19:49 betragen hat, was immerhin ein Stundenmittel von 25,4 km bedeutete. Das hatte ich nicht erwartet. Erstaunlicherweise war ich konditionell auch zum Schluß nicht eingebrochen, sondern konnte leichte Steigungen immer noch im Wiegetritt nehmen. Offensichtlich hatte die ständige Zufuhr von Kohlenhydraten und Flüssigkeit ihren Zweck nicht verfehlt.
4 Nachlese
Was bleibt nach einer solchen Radtour? Beherrschend ist natürlich das tolle Gefühl, so eine Leistung erbracht zu haben. Die Müdigkeit weicht bereits nach zwei, drei Tagen wieder aus den Gliedern, und auch Blessuren wie Schulterschmerzen und ein Taubheitsgefühl im rechten Unterarm (das Anheben von Gegenständen fiel mir mit rechts eine Weile etwas schwer) gehen nach zwei Wochen vorbei. Erstaunlicherweise tat zwar am Sonntagabend noch alles weh (vor allem Arm- und Brustmuskulatur), aber ein wirklicher Muskelkater folgte nicht. Ich konnte am Montag (fast) ganz normal zur Arbeit gehen. Letztendlich bin ich meiner Frau Ulrike enorm dankbar für die liebevolle Unterstützung, die sie mir nicht nur in logistischer Hinsicht, sondern auch moralisch den ganzen Tag gegeben hat. Alleine hätte ich es wohl kaum geschafft, diesen Lebenstraum zu verwirklichen.
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