Die 100 km von Biel eine Reise zu mir selbst.
Als ich in 2010 den Rennsteig-Supermarathon erfolgreich bestritt wurde die Lust nach noch mehr Kilometer wach. Heuer war es dann mal wieder soweit und ich startete im Rahmen der Bieler Lauftage in der Schweiz zum 100 km Lauf. Im Vorfeld hatte ich mich gut informiert Bücher gelesen und vor allem die vereinseigenen Ultraläufer nach Tipps gefragt.
Meine Tochter Carina hatte sich bereit erklärt, den Lauf als Fahrrad-Coach zu begleiten. Wir wählten als Unterkunft in Biel den Campingplatz Sutz direkt am See. Von dort aus waren es ca. 5 km bis zum Start / Zielbereich. Ich beschloss zum Start zu laufen, da ich überzeugt war, dass es nicht an den 5 km Zusatzstrecke liegen kann, wenn ich das Ziel nicht erreichen sollte.
Bei der Abholung der Startunterlagen ist Heidi dann eine Jacke der DJK Teutonia Gaustadt aufgefallen. Unser Vereinskollege Matthias Lorz hatte sich ebenfalls zum 100 km Lauf angemeldet.
Der Start kam näher, die Stimmung in der Stadt war echt Klasse. Der Startschuss fiel und die Menge der Läufer setzte sich langsam in Bewegung. Es waren mehr als 1000 Läufer auf der 100 km Strecke, dazu kamen noch Halbmarathon- und Marathonläufer. Es folgte ein ca. 5 km langer kreuz- und quer-Kurs durch die Stadt ein Hexenkessel !! Überall standen applaudierende Menschen; Kinder streckten Ihre Hände in die Laufstrecke um abgeklatscht zu werden. Da war es richtig schwer darauf zu achten, dass sich das Tempo nicht unbemerkt zu hoch schraubt. Nach dem Verlassen der Stadt ging es gleich hinauf über eine Hügelkette, um im benachbarten Tal dann den Lauf fortzusetzen.
Irgendwo in der Dunkelheit eines Feldweges kam eine Warnung, dass eine große Pfütze auf dem Weg ist. Viele blieben stehen, um dann am Rande der Pfütze vorbei zu laufen. Alle ?? Nein !!! Ein geübter Heckenhofläufer, der das Durchqueren des Bächla hart trainiert hat galloppierte mitten durch den Dreck und saute die anderen Läufer ein. Da war ein bisschen Geschrei und dann wieder Ruhe. Ich grinste zufrieden.
Bei km 19 rannten wir durch das HM-Ziel. Die Halbmarathonis und Marathonis waren eine ca. 3 km längere Schleife bereits in der Stadt gelaufen, daher war das HM-Ziel für die 100er bereits bei km 19 erreicht. Ein Stimmungsnest war zu durchqueren. Ich war begeistert und hingerissen. Leider viel zu kurz war diese Ablenkung. Bei km 25 traf ich dann das erste Mal meine Tochter. Die Radbegleiter wurden bis dort hin auf einer anderen Strecke von der Polizei eskortiert, weil durch die Halb- und Marathonläufer, sowie die 100km Läufer die Pisten ziemlich voll waren und für Radfahrer wenig Platz war.
Es ging durch stockfinstere Wälder, auf Landstraßen bergauf und bergab durch Dörfer, die hell beleuchtet waren und wo sich Menschen im Freien aufhielten und feierten. Das Marathonziel kam näher und wurde durchlaufen. Bei km 42 hatte ich eine Zeit von ca. 4h:40min bereit hinter mir. Mit diesem Zwischenergebnis war ich hoch zufrieden. Später nach dem Besteigen einer weiteren Rampe drehte ich mich um und traute meinen Augen nicht. Was für ein Bild in der Dunkelheit: In der unendlichen Dunkelheit und Ferne war eine Prozession von kleinen Lichtpunkten zu sehen. Eine Läuferkette, die sich unendlich in die Weite der Nacht ausdehnte.
Verpflegungstationen gab es alle 5 km. Angeboten wurde heiße Gemüsebrühe, Wasser, Cola, Iso, Bananen, Brot, Salzgebäck und noch mehr. Leider gab es ein Verpflegungsloch zwischen KM 45 und 55, so dass ich einen deutlichen Leistungseinbruch verspürte. Da half auch ein zusätzlich eingeworfenes Gel nix.
Die größte Versorgungsstation war Kirchberg. Dort gab es auch Duschen, Umkleiden, Massagen und vieles mehr. Es gibt tatsächlich Läufer, die sich an diesem Ort die Beine massieren lassen. Für mich ein undenkbares Szenario. Meine Beine würden anschließend keinen Meter mehr laufen meine Laufmaschine wäre dann garantiert für diese Nacht kaputt.
Nach Kirchberg teilte sich Lauf- und Radstrecke wieder auf; die Läufer wurden auf den Emmendamm geschickt. Ich fand einen ganz schmalen Pfad auf dem Deich eines wild dahin rauschenden Flusses wieder. Von Gebüsch umringt, mit großen klitschigen Steinen übersät erinnerte mich dieser Weg an den Rennsteiglauf. Ich musste das Tempo stark drosseln und stolperte aber trotzdem über einen Stein. Ich schlug am Boden auf. Bis auf eine paar leichte Schrammen waren aber keine Beschädigungen zu verzeichnen. Nachfolgende Läufer boten mir sofort ihre Hilfe an, die ich aber gottseidank nicht benötigte.
Kurze Zeit später holte mich mein Vereinskollege Matthias ein. Wir liefen ein bisschen nebeneinander her und rechneten uns aus, dass die geplanten 12 Stunden noch leicht zu erreichen sein müssten. Allerdings kämpfte Matthias mit Verdauungsproblemen.
Bei KM 65 wurde es hell und die elende Holperstrecke nahm ein Ende. Es ging dafür wieder bergauf in Richtung Biel. Jetzt mussten all die Hügelketten mit zum Teil harten Rampen abermals überquert werden.
Auf einer Anhöhe spielte ein Trompeter. Es ist ca. 6:00 Uhr am Samstag früh. Mittlerweile ist es taghell geworden. Ich laufe leicht bergauf. Da sehe ich, dass wieder einmal eine richtig steile Rampe bis zum Trompeter hochgeht. An dieser Rampe sehe ich niemand mehr hinauf rennen. Alle gehen mit mehr oder weniger effizienten Laufschritten den Berg hinauf. Oben angekommen geht es dann in Wellen noch ein bisschen rauf und runter bis die Abfahrt zum Tal des Bieler Sees kommt.
Ich lasse mich hinunterrollen. Ungebremst erreiche ich ein Tempo von ca. 5:15 bis 5:30. Ich überhole sie alle. Meine Gegner und Mitläufer hängen am Berg und bremsen sich hinunter. Ich dagegen löse alle Bremsen in den Beinen und danke dem Berg für seine Hilfe.
Unten geht es noch ca. 20 km in der Ebene am Fluss entlang in Richtung Biel. Bei Km 85 reift in meinem Kopf die Überzeugung, dass ich die 12 Stunden doch nicht zu schaffen sind. Eine fatale Situation der Kopf beginnt aufzugeben. Jetzt kommt der Einsatz meiner Tochter. Sie beginnt auf mein einzureden und mich am Laufen zu halten.
Langsam versuche ich das Tempo zu steigern. Irgendwann kommt der KM 95. Noch 40 Minuten bis zu meiner 12h Marke. Carina lässt nicht locker. Mein Blick wird trüber. Meine Sehkraft hat seit einiger Zeit bereits nachgelassen. Das Bild wird undeutlicher, aber ich laufe
ich laufe
. ich laufe
. jetzt bloß nicht mehr stehenbleiben
..
KM 98: Pures Entsetzen steht in meinem Gesicht: Ein Berg mitten in Biel ??? Es handelt sich um eine Bodenwelle, deren Existenz ich normalerweise gar nicht wahrnehmen würde. Carina redet mich den Berg hinauf. Noch ein unendlich langer Kilometer. Ich laufe seit ca. 15 km Vollgas.
Jetzt kommt die Ziellinie. Ich stoppe noch meine eigene Uhr, die noch eine 11 vorne dran zeigt. Mehr kann ich nicht erkennen. Ich umklammere das aufgeblasene Zieltor. Nach einiger Zeit nehme ich wahr, dass die Frau, die mir eine Medaille umhängen will, noch neben mir wartet. Sie hängt mir die Medaille um und beglückwünscht mich. Langsam realisiere ich mein Ergebnis langsam beginnt sich Freude in meinem Körper zu bilden.
Ich gehe von Pfosten zu Pfosten wie ein Betrunkener. Die Welt um mich herum wackelt und schwankt.
Im Ziel treffe ich auf Mattias. Er hat die Strecke auch geschafft.
Nach eine Weile gehe ich mit Carina ein Beruhigungsbier trinken. Damit kommen die Lebensgeister langsam wieder zurück. Zum Abschluß laufe ich die 5 KM zurück zum Campingplatz, aber jetzt mit einem Wellnesstempo. Es ist unglaublich, dass man zur Erholung nach einem 100 km Lauf wieder weiterlaufen sollte. Der Spaziergang war die reine Erholung.
Ich spaziere mit voller Wettkampfausrüstung, Startnummer und der Finishermedallie durch Biel. Wildfremde Menschen, Fussgänger, Radfahrer nicken mir zu, grüßen mich und beglückwünschen mich.
Jetzt ist die Sucht nach weiteren Herausforderungen erst recht ausgebrochen
.....
Hans-Rainer
Ergebnisse:
Hans-Rainer Graf: 11 h 58 min 56 s
Matthias Lorz: 12 h 52 min 40 s
km 25
km 50
km56
km 75
im Ziel!!!
Datum